Nebelland
Kerstin Stremmel
Die 'Gegenwart' ist nur das 'Hindernis' beim Übergang aus der Vergangenheit in die Zukunft, und Vergangenheit und Zukunft erscheinen uns als dieses und jenes der Existenz der Zeit. Daniil Charms aus: Über die Zeit, über den Raum, über die Existenz
Übergang ist aus mehreren Gründen ein passender Titel für die jüngste Fotoserie von Josef Schulz. Einerseits wird damit an jene im Verschwinden begriffenen innereuropäischen Grenzen erinnert, deren Bedeutung und Wirkung der Fotograf in seinem umfangreichen Projekt nachspürt, andererseits impliziert das Wort auch Veränderung, die Thema der Arbeit und Kriterium für die Wahl der formalen Mittel ist.
Für „Übergang„ gilt, wie für Schulz’ andere Serien, dass sich die Bilder in konsequent durchdeklinierten Werkblöcken mit unserer Lebenswelt auseinandersetzen und das Vorgefundene durch künstlerische Bearbeitung zugleich transzendieren. Dazu hat er etwa in „Centre Commercial„ Ansichten jener funktionalen Einkaufszentren, die sich in gewaltigen Ausmaßen am Rand der französischen Städte ausbreiten und eine von der Bourgeoisie nicht sehr geliebte Variante amerikanisierter Einkaufskultur darstellen, auf circa 55 cm hohen, bis zu 4 m breiten Bildern zusammengefasst, meist vor ewig blauem Himmel, farbenfrohe und künstlich wirkende Panoramen der meist eingeschossigen Hallen. Kam es Schulz bei diesen Bildern darauf an, Orte zu fotografieren, die mit herkömmlichen Mitteln der Fotografie nicht erfasst werden konnten und die dennoch auf den ersten Blick ein scheinbar überzeugendes Bild der Realität bieten, so sind die Manipulationen an den Werkgruppen „Sachliches„ und „Formen„ offensichtlicher. Lager- und Fertigungshallen etwa wirken ausgesprochen künstlich, fast virtuell, wie starkfarbige, hermetische Spielzeugmodelle, mit denen niemand spielen möchte. Auch die Flächen, auf denen diese funktionalen Zweckbauten stehen, hat Schulz manipuliert, einen solch homogen grauen Asphaltboden oder wie mit der Nagelschere geschnittenes Gras kennt man von Modelleisenbahnen. Die Grundstrukturen entsprechen durchaus dem Vorhandenen, die Fotografien analysieren, wie bestimmte Flächen aufeinander stoßen, welch skulpturale Qualität bestimmte, real existierende und eigentlich unspektakuläre Formen entwickeln können.
Eine konsequente Fortsetzung der Thematisierung des spannungsvollen Verhältnisses von Realität und aussagekräftiger Manipulation, jener Entstellung bis zur Kenntlichkeit, ist auch in „Übergang„ zu entdecken. Diese Serie, durch die Klarheit ihrer zentralperspektivischen Erfassung stärker an die Typologien seiner Düsseldorfer Professoren erinnernd und ebenso auf einen aufmerksamen, vergleichenden Blick zielend, besteht aus einer Vielzahl europäischer Grenzhäuschen, die teils wie verlassene Tankstellen an endlosen Highways wirken, wie Haltestellen, an denen nie ein Bus hält, teils wie kleine Häuschen mit für immer verschlossenen Fensterläden. Manchmal sind sie mit Graffitis dekoriert, weisen auf die längst obsoleten Möglichkeiten des Geldumtauschs etwa zwischen Spanien und Frankreich hin oder sind mit der recht zeitgemäß wirkenden Internetadresse www.policija.si versehen. Aus diesen, trotz ihrer Funktionalität erstaunlich variantenreichen Zweckbauten, treten keine Grenzbeamten zur Kontrolle mehr, und doch erinnert die Betrachtung der Bilder – äußerst sachlich mit einem Kürzelsystem bezeichnet, das aus den beiden Anfangsbuchstaben der Grenzländer und einer Nummerierung besteht – an das Gefühl, im nächsten Moment kontrolliert zu werden, und die immer noch spürbare Überraschung beim Vorbeifahren, dass dieses Procedere in dem hier erfassten geografischen Feld der Vergangenheit angehört.
Schulz erzeugt dadurch eine gewisse Ortlosigkeit, dass er den Hintergrund durch eine Unschärfe, die eher wie Nebel als wie eine Überbelichtung wirkt, verunklart hat. Dass es kein Nebel ist, wird sofort klar, wenn man die harten Schatten sieht, die manche der Grenzhäuschen werfen: Josef Schulz fotografiert auch bei blauem Himmel. Dieser Kontrast von präzise erfassten Gebäuden und Umgebung, der die Architekturen dekontextualisiert, ist absichtsvoll inszeniert, hält den eiligen Betrachter auf und lässt nach der Bedeutung dieser mittlerweile funktionslosen Relikte, der sich auflösenden „Denkmäler„ fragen, danach auch, welche Grenzen noch immer existieren. Offensichtlich wird auch, trotz der verblassten Töne, die Varianz der Flora: Nadelbäume und Palmen, Weinberge und schneebedeckte Berge bilden den Fonds der präzisen Architekturen, die die Frage aufwerfen, wie stark sich möglicherweise nationale Unterschiede in ihnen manifestieren. Die Nivellierung der Umgebung lässt zudem danach fragen, wie wichtig regionale Identitäten nach dem Bedeutungsverlust nationaler Grenzen sind. So schön manche der Pflanzen sind, so sehr sie Fernweh wecken, so melancholisch stimmt ihre fotografische Auflösung zugleich.
Die offensichtliche Künstlichkeit auf den Bildern ist Ausdruck Schulz’ Interesse an einem neuen Umgang mit dokumentarischem Material. Punkt für Punkt schreibt er, aus vorhandenem Bildmaterial, ein neues Bild, ganz im Sinne jener Einordnung der Fotografie in den Bereich der Grafik, die Peter Lunenfeld in seinem Aufsatz „Digital photography. The Dubitative Image„* vorgeschlagen hat. So wird die Hinterfragung der fotografischen Evidenz zentrales Merkmal der Schulz’schen Bilder. Damit soll nicht der Realitätsgehalt des fotografischen Bildes verleugnet werden. Interessant ist das Stadium zwischen Wiedergabe und digitaler Bearbeitung, das Manipulationen zur besseren Sichtbarmachung des Vorhandenen nutzt und bemerkenswerterweise Unschärfe in Klarheit verwandelt.
Es macht geradezu die Qualität seiner Bilder aus, dass sich die verwendeten Mittel nicht verselbständigen, sondern dem dokumentarischen Gedanken untergeordnet sind. So entsteht das seltsame Phänomen einer Wahrheitsfindung durch Manipulation der Art, die sich selbst kenntlich macht und dadurch den Realitätsgehalt des Dargestellten nicht desavouiert, obwohl die ästhetische Wirkung der Bilder mit ihrer stimmigen Farbigkeit stark ist - eine Schönheit im Übergang, die den Verfall des Dokumentierten sichtbar macht und damit auch den weiteren Prozess andeutet.
Und noch eine andere Art von Übergang wird durch die Art des fotografischen Zugriffs sichtbar: Innen- und Außenraum scheinen manchmal durchlässig, in den Fenstern spiegelt sich die Natur so stark, dass man meint, die Vegetation setze sich im Inneren fort; in oesl01 etwa, wo die Farben der Spiegelung so viel kräftiger als die der äußeren Umgebung sind. So scheinen die präzisen architektonischen Varianten etwas von dem zu enthalten, was sie umgibt, und bieten einer vielleicht nur vermeintlichen Angleichung Widerstand, sie deuten auf Differenz, die auch im Wandel sichtbar bleibt. Und so zeigt jede einzelne Architektur „physiognomische„ Eigenheiten, die das Einzelbild über die serielle Konzeption hinaus interessant erscheinen lassen.
*In: Snap to Grid. A User’s Guide to Digital Arts, Media, and Cultures„, Cambridge, Mass. 2000, S. 55-69