»Ich möchte keine perfekte Täuschung erreichen.«
Interview mit Josef Schulz, geführt von Andreas Schallhorn abgedruckt im Katalog "In Szene gesetzt", Hatje/Cantz, 2002
Schalhorn: Du bist 2001 von der Deutschen Bauzeitung für deine friesartig angelegten Fotos der Werkgruppe »Centre Commercial« mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis ausgezeichnet worden. Dieser Preis wurde im letzten Jahr zum vierten Mal vergeben. Das sehr weit gefaßte Thema des Wettbewerbs lautete »Visionen in der Architektur«. Siehst du dich als Architekturfotograf?
Schulz: Für mich ist die Architekturfotografie ein Teil meiner Arbeit. Ich habe mich lange Zeit mit den architektonischen Gegebenheiten in den französischen Vorstädten, den dortigen Einkaufszentren, auseinandergesetzt, doch meine thematische Ausrichtung umfaßt auch andere Bereiche. Wenn man das zusammenfassen will, so sind es die Vorstädte und Gewerbegebiete, aber auch, wie schon in meinen früheren Arbeiten, industriell geprägte Areale. Diese nutze ich dann als Ausgangspunkt für meine Arbeiten. Ich tue das jedoch nicht in beschreibender oder dokumentarischer Absicht, möchte vielmehr eigene Akzente setzen. Was den db-Preis angeht, so haben sich meine Fotografien gut in die Thematik des Preises eingefügt. Meine Vision war aber natürlich eine andere, realistischere als die, die man vielleicht erwartet hätte.
Schalhorn: Unter welchen Voraussetzungen hast du die Aufnahmen zu »Centre Commercial« in den Gewerbegebieten mehrerer französischer Städte gemacht? Die bei hellstem Tageslicht erfaßten Einkaufszentren wirken wie ausgestorben, so daß der Blick des Betrachters ohne jegliche Ablenkung die Strukturen und Zeichensysteme der Fassaden wie ein Relief abtasten kann.
Schulz: Die meisten Arbeiten sind wochentags entstanden, überwiegend zur Mittagszeit oder am frühen Nachmittag: Zu diesen Zeiten sind in Frankreich die Einkaufszentren eher leer. Sie werden erst gegen Abend oder am Samstag voll. Dadurch war die ungehinderte Erfassung ihrer Fassaden relativ einfach, zumal jedes Bild als Panorama aus 20 bis 30 Einzelfotografien besteht. So hat man auch die Möglichkeit, bei der Bildgestaltung Einfluß zu nehmen, das heißt Personen zu integrieren oder nicht.
Schalhorn: Inwieweit haben die simplen und schnell zu errichtenden Ingenieurbauten wie die »Centres« eine Bedeutung für dich? Willst du die visionär übersteigerten architektonischen Räume mit den Mitteln der Fotografie kritisieren?
Schulz: Wenn man grob klassifiziert, kann man sich in der Fotografie mit Menschen und mit der Umwelt befassen. Ich habe mich in dem Fall für die Umwelt entschieden. Dieses Phänomen der Industrie- und Gewerbestrukturen, zu denen die »Centres« und die Werkgruppe der »Hallen« gehören, ist ja seit einigen Jahren aktuell. Daher gibt es auch vielfältige fotografische Positionen zu diesem Sujet. In diesen Strukturen drückt sich natürlich auch unser Leben irgendwie aus. Wir suchen zwar immer nach dem Schönen und blenden bestimmte Strukturen, die nicht dazugehören, aus. Diese sind jedoch eindeutig vorhanden und beeinflussen unser Leben insgesamt sehr viel stärker als wir meinen. Somit prägen sie fast zwangsläufig auch meine Arbeit.
Schalhorn: Die »Centres« sind keine Orte des gemütlichen Flanierens, wo man freiwillig gerne verweilt. Es geht um den bequemen Einkauf, mehr nicht. Gibt es für dich dennoch eine Poesie bzw. Aura dieser Areale, die sich in den Fotografien vermittelt?
Schulz: Da ich seit vielen Jahren in diesen Gebieten fotografiere, entwickelt man eine bestimmte Nähe zu Bildmotiven und auch zu Plätzen und Orten. Die Umkehrung, aus diesen »Unorten« wieder Orte zu machen, die vielleicht abbildenswert sind, diesen Gedanken finde ich ganz spannend. Ich suche nach Orten, die einen gewissen blinden Fleck darstellen, also im fotografischen Sinn als Formen unverbraucht sind. Mich interessiert nicht, daß ich Strukturen nachbilden kann, die sich visuell abgenutzt haben. Es soll für mich schon spannend bleiben.
Schalhorn: Was das Thema der »Hallen« angeht, das dich im Anschluß an die »Centres« bis heute beschäftigt, gewinnt man den Eindruck, als gäbe es einen ästhetischen »Sprung« - das Stilmittel der digitalen Bearbeitung spielt nun eine größere Rolle. Wie kam es dazu?
Schulz: Bei der Serie der »Centres Commerciaux« habe ich zum ersten Mal den Computer als Werkzeug eingesetzt. Jedes Bild mußte digital aus einer Vielzahl an Bildern zusammengefügt werden. Dabei habe ich festgestellt, daß es viele fotografische Phänomene innerhalb der Wahrnehmung von Fotografien gibt, die für mich ungeklärt waren. Inwieweit kann ich fotografische Flächen im Bild selbst bearbeiten, inwieweit kann ich den real anmutenden Charakter eines Bildgegenstandes zurücknehmen? Welche Merkmale bestimmen Fotografie, wo hört sie auf? Diese Fragen rückten verstärkt bei der Beschäftigung mit den »Centres« ins Bewußtsein. Daraus haben sich verschiedene Fragestellungen ergeben, die ich dann in der neuen Serie der Hallen weiter bearbeiten wollte. Bei den »Centres« war es noch der Grundgedanke, eine möglichst »reale« Darstellung eines Ortes zu erreichen, der in meinen Augen mit den Mitteln der herkömmlichen Fotografie nicht wiedergegeben werden kann. Somit habe ich mich entschlossen, die Ansicht in Form einer flächigen Darstellung als Panorama zu entwickeln.
Schalhorn: Das ist ja eigentlich schon ein sehr digitales Denken, ein Erweitern der Fotografie durch das beinahe nahtlose Verknüpfen von Einzelbildern am Rechner. Es ergibt sich daraus, daß man in den »Centres« mehr sieht als man in der Realität auf einen Blick von der Perlenkette der Gebäude erfassen könnte. Dies entspricht wohl dem Charakter eines Panoramas. Normalerweise bietet vor Ort nur der Blick aus größter Entfernung über das Gelände die Übersicht. Dabei würde im Foto alles sehr klein werden - und Details kaum wahrnehmbar. Bei dir sieht man plötzlich alles aus der Totalen und aus der gleichen Nähe. Es ist klein - und doch detailreich. Wie Bernd Finkeldey in einem Text über dich geschrieben hat, weiß der Betrachter nie so recht, wo er sich selbst räumlich verorten soll. Es kommt zu einer Verunklärung des Raumbezugs. Soll der Betrachter getäuscht werden?
Schulz: Ich habe schon bei der ersten Montage festgestellt, daß man den Bezug der Fotografie zum realen Gegenstand verliert. Es entsteht eine neue Abbildungsstufe, eine Stufe, die zwar Realität vorgaukelt, aber nicht mehr Realität ist. Die Entschlüsselung der Herstellung dieser Arbeit bleibt aber für den Betrachter möglich - allein anhand perspektivischer Brüche und nicht aufgelöster Details. Man soll diese Brüche sehen, sie sind nicht verschleiert. Ich möchte keine perfekte Täuschung erreichen.
Schalhorn: Als Fotograf bedienst du dich der digitalen Bildbearbeitung. Ist die intensive Beschäftigung mit dieser Technik von deinem Lehrer Thomas Ruff ausgelöst worden, der in letzter Zeit, in seinen »Porno-Bildern«, sogar die digitalen Bilder im Internet zur Grundlage der Fotografie macht und damit das Verhältnis der Bildmedien zueinander umdreht?
Schulz: Ich denke, daß die Quelle nicht in den Arbeiten von Thomas Ruff zu suchen ist. Ich sehe die digitale Bearbeitung als eine Möglichkeit, um zu fotografischen Abbildern zu kommen. Bei den heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gehört die digitale Arbeit genauso dazu wie die klassische analoge Dunkelkammerarbeit.
Schalhorn: Wie verhält es sich mit dem Ausgangsobjekt, zum Beispiel der einzelnen Halle. Inwieweit bleibt sie als plastischer Körper wichtig für das spätere Bild? Ist es so, daß du einfach sagst, ich brauche bloß drei Farben und einige Grundformen, die dann, salopp gesprochen, per Photoshop miteinander vermengt werden? Schulz: Wenn wir von den neuen Arbeiten ausgehen, so gilt, was auch schon bei den »Centres« der Fall war: Zugrunde liegt immer eine Fotografie, die ich in ihrer Grundstruktur nicht weiter bearbeite, was das Verhältnis der Flächen zueinander und die Ausrichtung der perspektivischen Linien anbelangt. Dies lege ich beim Fotografieren fest, also vor dem Objekt. Und dann folgt die zweite Stufe: Ich nutze das Ausgangsfoto und bearbeite dort bestimmte Dinge. Und am Ende habe ich ein neues fotografisches Bild. Man kann aber immer noch einen Vergleich anstellen zwischen dem Ausgangsbild und dem Endbild. Die Strukturen sind vergleichbar, doch verändern sich einzelne Aspekte in vielfältiger Weise. Wie sind zum Beispiel Schatten angelegt, wie bestimmte Kontraste in den Flächen? Inwieweit kann ich die erzählerischen Elemente einer Fotografie außer acht lassen und entfernen? Welche Rolle spielen sie überhaupt für die Fotografie, welchen Charakter geben sie diesem oder jenem Bild? Das ist etwas, was mich interessiert. Was passiert mit der ursprünglichen Fotografie? Diese Fragen versuche ich in den verschiedenen Stufen der praktischen Bearbeitung immer wieder zu ergründen. Ich versuche zu verstehen, wie die Gesetze dieser zweidimensionalen Darstellung funktionieren und was in solch einem Abbildungsprozeß passiert.
Schalhorn: Wie muß ein Gebilde beschaffen sein, damit du es in der Fotografie bzw. als Fotografie analysieren kannst? Muß es sich überhaupt um Architektur handeln?
Schulz: Als ich mit der Serie der »Hallen« anfing, war mir klar, daß ich mit einfachen Grundstrukturen beginnen muß, da ich nur dort bestimmte Gesetze studieren kann. Die Zunahme an Komplexität bedeutet, daß ich irgendwann sicher das Motiv der einfachen architektonischen Darstellung verlassen und auch komplexere Strukturen hinzuziehen kann. Das geht bis zur Naturdarstellung, zur Landschaft, also zu Gebieten, die für mich noch Neuland sind.
Schalhorn: Gibt es bei deinen Arbeiten hinsichtlich der Größe der Abzüge irgendwelche Regeln?
Schulz: Bei den »Centres« gibt es eine Festlegung des Maßstabes, der aber durch den technischen Prozeß der Herstellung und die Handhabbarkeit dieser Arbeiten bedingt ist. Sie wären auch als größere Wandinstallationen denkbar. Bei den Werken aus der neuen Reihe »Sachliches«, den Hallen, orientiere ich mich an einem Darstellungsmaßstab, den ich auch habe, wenn ich diese Werke am Rechner bearbeite: Der Betrachter sollte sie also ungefähr im gleichen Maßstab sehen wie ich, als ich sie bei der Bearbeitung am Bildschirm vor mir hatte: Die Festlegung der Arbeit am Monitor ergab die Größe dieser Bilder. Deshalb können sie nur unzulänglich in einem kleineren oder größeren Maßstab funktionieren, weil dann eine Transformierung stattfindet.