Aus der neuen Welt
die Forschungsreisen des Josef Schulz
1.
Zu behaupten die Arbeiten von Josefs Schulz entstünden auf Reisen ist nicht richtig. Sie werden im Atelier am Rechner geschaffen. Doch das benötigte Material für die Welten, welche er ersinnt, sucht sich der Künstler draußen. Dafür macht er sich auf den Weg ins Umland und in die Ferne: ins Rheinland (Hallen), in die Vorstädte Frankreichs (Centre Commercial), in die Alpen (Terraform), in Chinas Megacities (Cityscapes); in die suburbanen Räumen der Vereinigten Staaten (Poststructure und Sign Out), an Europas Landesgrenzen (Übergang) – um nur einige zu nennen.
Um so erstaunlicher scheint es, dass Josef Schulz neuester Werkzyklus aus Quellen schöpft, zu denen ihn weder Auto noch Flugzeug führten. Um das Wesen dieser erstaunlichen Reise besser zu erfassen, lohnt es, sich einige Transportmittel in Erinnerung zu rufen, welche der Künstler benutzt, um seine Welten zu erkunden.
Die Lupe
Lange Jahre war den Lichtbildnern die Lupe unentbehrliches Werkzeug. Sie zogen sich unter ein schwarzes Tuch zurück. Gegen störende Einstrahlungen geschützt, begutachteten sie durch die Linse das auf die Mattscheibe projizierte Bild. Erst dann bannten sie es auf Glasplatte oder Film. Später, über den Leuchttisch gebeugt, prüften sie mit gleichem Gerät das Negativ: die Schärfe, die Dichte der Schwärzung, das Korn. So war es möglich, zu entscheiden, ob es für einen Abzug oder eine Vergrößerung taugte. Der Blick durch das doppelkonvexe Glas erlaubte den Sprung heran an die kleinsten Details und weiter bis zur Grenze der Auflösung – bis dorthin also, wo sich das Abbild verflüchtigt und das Reich der Silberjodkristalle beginnt.
Der Zauber dort blieb den gewöhnlichen Betrachtern verschlossen, denn lange Jahre waren die Abzüge zu klein, um mit dem bloßen Auge die Materialität des Lichtbildes ermessen zu können und mit der Lupe haben die wenigsten Betrachter hantiert.
Der Film, das Papier
Nach der jahrelangen Praxis des Kontaktabzugs ging man dazu über zu vergrößern. Die Abzüge und Prints wuchsen an die Historienschinken der großen Museen heran. Längst sprengen sie die Standardbreiten der industriellen Papierrollen. Das Negativmaterial ist indes nicht überall mitgewachsen, weswegen die Grenzen der Auflösung auch für den Laien ohne Lupe erkennbar werden.
Wenngleich gewähltes Negativmaterial, Fotopapier und die dort in Gang gebrachten technischen Prozesse nicht unerheblich für die Gesamtwirkung sind, so verraten sie doch weit weniger über die künstlerische Auffassung von Welt als dies der Pinselstrich auf der Leinwand oder die gezeichnete Linie auf dem Zeichengrund tun.
Dennoch: Bei Josef Schulz spielt die Materialität seit jeher eine wichtige Rolle. So pflegte er jahrelang, die Ursprungsmotive seiner Montagen mit der analogen Plattenkamera aufzunehmen, um sie klassisch im Fotolabor auf optischem Wege zu vergrößern. Diese Abzüge wurden ihrerseits gescannt, um erst dann am Rechner bearbeitet zu werden. Auf diese Weise blieb das Papier als Bildträger subtil präsent: Den Hallen, Formen und Landschaften sind eine weiche malerische Anmutung einbeschrieben, welche mit dem digitalen Sensor so nicht nachahmbar ist.
Die Haptik
Während das Papier bei Josef Schulz eher spürbar, denn aufspürbar ist – tatsächlich ist keine Faser, keine Pore zu sehen –, gibt es eine andere Ebene, welche sich dem Betrachter sehr viel einfacher erschließt: Wer nah genug an die Werke herantritt, der entdeckt Bildpartien, in welchen auch das bloße Auge das Korn der Filmemulsion erkennen kann. Andere Bildteile hingegen geben die Begrenztheit des Materials nicht preis, sie verschließen sich dem prüfenden Blick. Oft sind es die Untergründe – das Gras, der Beton, die Bodenplatten, der Schotter – welche so ihre Künstlichkeit, ihre geklonte Natur offenlegen, während die Baukörper und Formen dichthalten. Man möchte an ihnen tasten, um sie besser zu begreifen.
Die Kontrolle und der Zufall
Ganz zu durchschauen ist das rätselhafte und immer auch ein wenig augenzwinkernde Spiel nicht, welches Josef Schulz mit dem Betrachter spielt. Herantreten. Zurücktreten. Herantreten.
Fest steht, dass das In-Augenschein-Nehmen der Arbeiten auch aus nächster Nähe ein Vergnügen ist, denn das Material ist selbst in den winzigsten Details in solch meisterlicher Weise gefügt, dass es niemals fadenscheinig-technisch wirkt. Nur was von der Anmutung, von der Schärfe, von der Helligkeit, von der Dichte, vom Korn her ähnlich, aber nicht zu ähnlich ist, eignet sich dafür, Bildpartien zu überdecken.
Dies vermag der Künstler deshalb, weil er immer in Sichtweite jener oben beschriebenen Grenze arbeitet, eben dort wo die Optik, der Scanner, das Korn, das Papier, das Pixel noch spürbar sind. Zoom rein. Zoom raus. Wie jeder gute Maler weiß Josef Schulz beim Ineinanderarbeiten der Teile genau, was er kontrollieren, wo er präzise sein muss und wo er den Zufall für sich arbeiten lassen kann.
Er legt Schichten übereinander, er zieht sie ineinander. Er hellt auf, er trübt ein. Er tupft, er schiebt, er setzt Akzente. Und selbstredend tritt er immer wieder zurück, um zu prüfen, wie fest sich die Farben, die Linien, die Übergänge in der Distanz zusammenfügen. Das ist nichts anderes als Malerei mit den Mitteln digitaler Bildbearbeitung. Steuerung plus und Steuerung minus. Die beiden Tastenkombinationen ersetzen den Schritt vor und den Schritt zurück von der Leinwand. Der Bildschirm ist Gehhilfe und Lupe.
2.
Die Auseinandersetzung mit Druckerzeugnissen des 19. Jahrhunderts mag als gewaltiger Sprung im Œuvre von Josef Schulz erscheinen. Tatsächlich fügt sich die neue Serie nahtlos an das bisherige Schaffen.
Die populäre Wissenschaft
Ob Brehms Tierleben, Illustrated London News, L’univers Illustre, L’Illustraton –, die ins Visier genommenen Druckerzeugnisse richteten sich seinerzeit an das zahlende, gehobene Bürgertum, was von der Welt träumte, aber Zuhause blieb. Der Massentourismus war noch nicht erfunden, aber die Sehnsucht nach Geschichten und Bildern aus der Ferne war groß. Noch war die Welt nicht bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet und abgelichtet. Man wollte wissen und man wollte sich unterhalten lassen.
In seinen Beschreibungen der Tierwelt gab Brehm zwar ungefähr den wissenschaftlichen Stand der Zeit wieder, aber er tat dies in einem populären erzählerischen Rahmen. Auch genossen seine Illustratoren große gestalterischen Freiheiten. Die Länder, welche sie bebilderten, hatten sie meist nicht mit eigenen Augen gesehen. Ähnlich wie die Präparatoren der Naturkundemuseen jener Zeit, zeigten sie die Tiere in wirkungsvollen Posen. Ob diese der Art entsprachen, musste sich keiner fragen lassen. Die Landschaften dahinter hatten ihrerseits der eben erwähnten Inszenierung zu dienen, so wie das Bühnenbild im Theater.
Das Bild von der Welt
Nicht grundlegend Anderes passierte bei den Landschaften und den historischen Szenen in Illustrated London News. Um von die Weite eines Blicks, die Höhe eines Berges, die Schönheit eines Flusses, die Bedeutung des historischen Moments wiederzugeben, waren Veränderungen und Dramatisierungen ein probates Mittel. Es stand nicht zu befürchten, dass das heimische Publikum das entstandene Idealbild am Original messen würde. So dokumentieren die Illustrierten und populären Enzyklopädien jener Zeit vielleicht weniger den Zustand der Welt als vielmehr die Art und Weise, wie man sich in den Industrienationen ein Bild von eben dieser Welt machte.
Die Abtastung
Josef Schulz neuerliche Reise führt nun mittenhinein in den Dschungel alter Enzyklopädien und Folianten, zu finden in Pariser Antiquariaten mit verschrobenem Personal oder bei schnöden Auktionen im Internet.
Die vergilbten Seiten wurden ihrer Bindung entrissen und hochauflösend vom Scanner in die digitale Welt überführt. Wieder ist das Papier der Informationsträger. Schulz beugt sich darüber und im Heranzoomen entdeckt er völlig neues Material. Die Welt dort besteht nicht aus Korn oder Pixeln, sondern aus Linien, Punkten, Schraffuren. Es ist kein regelmäßiges, totes Raster wie es der Offsetdruck verwendet, sondern ein lebendes, atmendes, von Hand geschaffenes Gespinst mit kleinsten Unregelmäßigen und winzigen Fehlern. Das erforscht er, das will er verstehen, das will er nutzen.
Zoom hinein, Zoom hinaus. Josef Schulz schleicht sich zu den alten Meistern, er schaut ihnen über die Schulter und auf die Finger, die Radiernadel, das Papier. Dann bedient er sich ihrer Mittel. Tatsächlich?
Bedient er sich wirklich ihrer Mittel?
Nicht ganz.
Die Verkleinerung
Eine gängige Technik, um ein Bild dichter und realer erscheinen zu lassen, ist die Verkleinerung. Comiczeichner wissen das, sie legen ihre Blätter größer an, als sie später publiziert werden. Was im zeitgenössischen Offsetdruck problemlos realisierbar ist, war zu Zeiten von Brehm unmöglich. Die Abbildungen waren immer nur so groß wie die eisernen Druckplatten. Wollten die Illustratoren von Brehms Tierleben ihr eigenes Handwerk verstecken, so ging das nur, wenn sie jenseits der Grenze arbeiteten, welche das normale Auge auflösen konnte. Dafür nahmen sie das oben erwähnte Werkzeug: die Lupe.
Es gelang ihnen derart filigran zu werden, dass der gewöhnliche Betrachter keine Motivation verspürte, die Machart zu ergründen; viel lieber ließ er sich verzaubern, überwältigen, entführen.
Die Vergrößerung
Josef Schulz macht keine Kontaktabzüge, er bleibt nicht beim Originalmaßstab des Drucks, er macht Vergrößerungen. Bei ihm wachsen die Abbildungen wenigstens auf das Zwanzigfache. Das Handwerk wird offengelegt, das Gewirr an Linien und Schraffuren wird übergroß. Mitunter dreht sich das Schwarzweiß – einem Vexierbild gleich – vom Tiefdruck zum Hochdruck. Der Betrachter fühlt sich an einen Holzschnitt erinnert, so groß sind die Kerben und Grade.
Im Nähertreten aber passiert genau das, was die Illustratoren zu vermeiden suchten: die Konturen, die Bildlichkeit lösen sich auf. Die einzelnen Striche der Radiernadel werden sichtbar und damit auch die Fehler – die kleinen Abweichungen der parallel und gerade geglaubten Linien, das Zittern in der Hand. Auch wird offensichtlich, wo die Illustratoren zeichnerisch und wo sie malerisch gedacht haben.
Erst mit zunehmender Distanz zieht sich dieses Dickicht wieder zu Gestein, Vegetation, Fell oder Federn zusammen. Das binäre Schwarz oder Weiß der Linien ergibt dann im Auge des Betrachters unzählige Grautöne, Kantiges, Weiches, Raschelndes, Piksendes. Auf diese Weise gelang es den Illustratoren sogar die Maltechnik eines Tuners zu imitieren.
Anders als die einstigen Illustratoren, welche die Vorlagen schufen, lässt Josef Schulz dem Betrachter also die Wahl, wie er seine Welt erkunden möchte: Aus nächster Nähe, aus der Distanz oder zwischen den beiden.
Leerstellen
Indem er uns mit der Nase auf die wunderbare Welt der alten Druckplatten stößt, lenkt Josef Schulz davon ab, dass er die Originale auf der Makroebene gründlich verändert hat:
Da gibt es weite Landschaften, denen schlicht das Personal fehlt, welches sie zu einer historischen Szene gemacht hatten. Da türmen sich kantige Felsmonolithe aus dem Meer, denen jeder menschliche Maßstab wegretuschiert wurde und so den Szenerien eines Fantasy-Blockbusters ähnlich werden. Es werden Vogelreptilien, Löwenaffen, Antilopenhirsche gezeigt, die kein Forscher je erblickt hat und kein Illustrator zu zeichnen gewagt hätte. Es finden sich leere Pflanzengründe, Steppen und Urwaldszenerien, die ursprünglich dem edlen Zweck gehorchten, Tiere in Szene zu setzen. Nun sind sie mit sich alleine. Die Leerstellen sind gefüllt, aber die Kompositionen haben etwas rätselhaft Unausgewogenes.
Trügerische Spuren
Der Künstler verwischt seine Spuren so geschickt, dass auch unverändert Gebliebenes, Originales in den Verdacht der Manipulation gerät. Wissenschaft? Fiktion? Zweifel sind an jeder Stelle berechtigt, da ja auch die Illustratoren verzerrt, ergänzt, spekuliert, überhöht hatten. Aber sie hatten es eben nicht überall getan.
Josef Schulz macht sich das Handwerk, aber eben auch den staunenden, gestaltenden Blick der alten Meister zu eigen. Dabei lässt er die Frage unbeantwortet, was an Seltsamkeiten von ihm stammt, was von seinen Vorgängern, was von unserer Welt.
Reise in die Neue Welt
Sich in diesem Gestrüpp zu verfangen ist das Ziel, das eigentliche Vergnügen dieser Expedition. Wer nun glaubt, das von Zuhause aus erledigen zu können, so wie seinerzeit das zahlende, gehobene Bürgertum, der täuscht sich.
Die Zeiten haben sich geändert – mit dem Blättern in Abbildungen oder dem Lesen von Artikeln ist es nicht getan. Die Arbeiten mögen zwar in Ateliers und alten Druckwerkstätten entstanden sein und nicht auf Reisen. Doch während Künstlerinnen und Künstler vor Leinwänden oder Rechnern durch Welten wandern, ist dies den Betrachtern der Werke nicht gegeben.
Wer in Josef Schulz Bilder aus der Neuen Welt eintauchen will, wer das Staunen lernen und durch die Zeiten, Linien und Ebenen fallen möchte, der wird zweifellos eine Reise zu den Originalen machen müssen.
Patrik Metzger